2015-03-13

Eine Anmerkung von Ben Kaden (@bkaden)

Bei der Süddeutschen Zeitung wurde eine kuriose Überschrift daraus: Studie: Wissenschaftler produzieren zu viele Studien. Aber ganz so selbstbezüglich wie das zunächst klingt, ist die unlängst auf arXiv.org publizierte Arbeit von Pietro Della Briotta Parolo, Raj Kumar Pan, Rumi Ghosh, Bernardo A. Huberman, Kimmo Kaski und Santo Fortunato zum Attention decay in science nicht. Verschiebungen in der Aufmerksamkeitsökonomie in der Wissenschaft wirken selbstverständlich erheblich auf die Frage zurück, wie wissenschaftliche Publikationen sinnvoll vermittelt werden können und sollen. Am Ende steht möglicherweise die Frage, ob die herkömmlichen Form des wissenschaftlichen Aufsatzes bzw. der wissenschaftlichen Monografie überhaupt noch auf die neuen Wahrnehmungs- und Filterkonventionen passen. Eine stärkere Öffnung hin zu dynamischen Formen im Social Web ist zumindest in den Geisteswissenschaften freilich noch nicht in Sicht, wie Thomas Thiel vergangenen Mittwoch in der FAZ von der Wissensspeicher-Tagung in Düsseldorf zu berichten wusste:

„Dass man die Schleusen der Wissenschaft nur für qualitativ gesichertes Wissen öffnen und Social Media und Blogs dem Experimentellen, Vorläufigen und Wissenschaftsjournalistischen überlassen solle, stieß unter Professoren auf große Sympathien.“ (Thomas Thiel: Die Neuvermessung des elektronischen Speicheruniversums. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.03.2015, S. N4. Für eine umfänglichere Auseinandersetzung mit diesem Bericht siehe LIBREAS-Tumblr)

Die Studie zum Attention Decay lässt wiederum vergleichsweise wenige Schlüsse hinsichtlich der Entwicklungen in den Humanities zu, denn die Autoren untersuchten Forschungsbereiche aus Natur- und medizinischen Wissenschaften (genau: Physics, Chemistry, Molecular Biology, Physiology or Medicine) deren Publikationskulturen sich deutlich von denen in den Geisteswissenschaften unterscheiden. Da sie als Datengrundlage die gängigen Citation Indices heranzogen, konnten sie zunächst einmal den Zitationsverfall (citation decay), also Verschiebungen in der Halbwertszeit messen und feststellen, wann eine Publikationen das Stadium der Obsoleszenz erreicht hat:

„In this paper we focus on the decay of attention in science, on the basis of scientific articles, which like any other content, become obsolete after a while. Typically this happens because their results are surpassed by those of successive papers, which then „steal“ attention from them.“

Wobei die Wortwahl („steal“) auch wieder etwas suggeriert, was so vielleicht nicht ganz angemessen ist und in jedem Fall tiefere Untersuchungen auf der Inhaltsebene der „bestohlenden“ und „bestehlenden“ Publikationen nach sich ziehen müsste. Denn es ist durchaus ein Unterschied ob „surpassed“ bedeutet, dass die Ergebnisse falszifiziert werden, was eine Arbeit generell aus dem Diskurs schieben dürfte, oder ob sie Ergebnisse bestätigt, was sie als zusätzlichen Beleg zu einer Annahme wertvoll bleiben lässt oder ob eine andere Forschungsfrage plötzlich interessanter ist, was dem „Vergessen werden“ eher entspräche. Hier scheint konzeptioneller Schärfungsbedarf gegeben, weshalb gar nicht so leicht ist, die Ergebnisse der Untersuchung zu deuten. In jedem Fall ist die Schlussfolgerung der Süddeutschen Zeitung aus wissenschaftstheoretischer Sicht ziemlicher Nonsens:

„So umfangreich die Analyse war, so eindeutig ist ihr Ergebnis – und für die Wissenschaft mehr als besorgniserregend. Zwar steigt die Zitierquote kurz nach der Publikation von neuen Werken rapide an und erreicht dann schnell ihren Höhepunkt, so heißt es in der Studie, meist fällt diese Quote aber nach sehr kurzer Zeit stark wieder ab, oft schon nach dem ersten Jahr.“

Die Analyse war zwar in der Menge halbwegs umfangreich aber, wie auch die Autoren zugeben, äußerst grob gerastert und lässt daher viele Detailfragen offen. Dass die Zitierquote zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der Veröffentlichung stark ansteigt und bald wieder abfällt, überrascht selbst szientometrieferne Beobachter des massiv auf Aktualität setzenden naturwissenschaftlichen Kommunikationsbetriebs in etwa so viel wie jede andere Binsenweisheit. (Auch die Existenz von Preprints, wie die Publikation auf arXiv selbst einer ist, sind eine Folge des Aktualitätsgebots.) Die Neuigkeit der Untersuchung liegt nun in der Feststellung einer Beschleunigung des Prozesses, also einer Verkürzung der Halbwertszeit der Publikationen und die Rolle des Anwachsens der Publikationsmenge:

„So, the growing number of publications proportionally increases the likelihood of a paper to become obsolete […]“

Auch dieses Phänomen ist nicht furchtbar verblüffend und ebensowenig die permanente Zunahme des wissenschaftlichen Publikations-Output. Derek de Solla Price stellte nämlich ca. 1963 fast dauerhaft gültig fest:

„Die ständige Verdoppelung etwa alle 15 Jahre hat uns das gegenwärtige wissenschaftliche Zeitalter beschert und die eigenartige Gegenwartskonzentration der Wissenschaft erzeugt, die uns zu sagen erlaubt, daß der größte Teil der wissenschaftlichen Arbeit jetzt erfolgt und die meisten Wissenschaftler als unsere Zeitgenossen leben. “ (zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1974, vgl. www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/price14.html)

Die Feststellung des beschleunigten „Aufmerksamkeitsverfall“ wäre vermutlich auch vor 20 Jahren genauso ausgefallen, wenn auch vielleicht mit anderen Messwerten. Die leicht alarmistische Lesart der Süddeutschen Zeitung entsprechend sicher ebenfalls:

„Neu veröffentlichte Artikel und Studien verschwinden demnach viel schneller aus dem wissenschaftlichen Diskurs als noch vor 40 Jahren. Besonders beunruhigend ist laut der Analyse, dass vor allem in den vergangenen Jahren die Kurve immer extremer abfällt. Fazit: Das Wissen wächst zwar immer schneller, aber es verschwindet auch immer schneller wieder. Und die Forscher sind kaum noch in der Lage, den Überblick zu behalten.“

Übrigens stellte die selbe Zeitung 1996 intuitiv fast weitsichtiger, wenn auch ebenfalls nicht hundertprozentig konzeptscharf, fest:

„Das Wissen im Bereich elektronisches Publizieren hat tatsächlich eine kurze Halbwertzeit: Gestern kannte niemand ‚html‘, heute braucht man die Sprache, um Seiten für den Internet- Browser WorldWideWeb zu programmieren, morgen wird man sich auf die Schenkel klopfen, wenn der Name fällt.“ (Doris Schneyink: Lockrufe aus dem Daten-Dschungel. In: Süddeutsche Zeitung, 24.02.1996, S. 815)

Dass ich das heute problemlos zitieren kann, zeigt übrigens auch, wie relativ das „Vergessen“ von Publikationen dank digitaler Nachweissysteme geworden ist. Möglicherweise also liegen der Verringerung der Zeitspanne, in der ein Artikel zitierwürdig ist, ganz andere Faktoren als ein Überblicksverlust zugrunde. Dass man sich diesen wissenschaftstheoretisch komplexer nähern muss, als es Parolo et al tun, wissen dieses Autoren sicher selbst. Die Wissenschaftsredaktion der SZ könnte das allerdings auch. Dann würde sie angesichts der Normalität des Ergebnisses vielleicht auch etwas vorsichtiger mit Deutungen wie „besorgniserregend“ umgehen. Parolo et al enthalten sich aus gutem Grund solchen Wertungen. Genau genommen bestätigen sie nämlich, dass sich an den Beschleunigungsprozessen seit de solla Price nichts grundlegend geändert hat. Die untersuchten Disziplinen befinden sich folglich eher auf ihrer ganz normalen Entwicklungsbahn. Die Öffentlichkeit glaubt allerdings bei der Meinungsbildung zum Thema Wissenschaft, so ist zu befürchten, eher der Tagespresse.

(Berlin, 13.02.2015)

Pietro Della Briotta Parolo, Raj Kumar Pan, Rumi Ghosh, Bernardo A. Huberman, Kimmo Kaski. Santo Fortunato (2015) Attention decay in science. [Preprint submitted to Elsevier] http://arxiv.org/abs/1503.01881

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