2014-11-26

Eine Notiz von Ben Kaden (@bkaden)

In der Tech-Rubrik der Zeitschrift The Atlantic erschien in der vergangenen Woche ein Aufsatz von Michael Erard über die Bedeutung von … Wörtern. Er beleuchtet die Rolle dieser Kerneinheit der Sprache aus diversen Perspektiven und landet nicht ganz unerwartet auch im Bereich der Digital Humanities. Anlass sind ihm Verfahren des Distant Reading, das er folgendermaßen beschreibt:

„Taking advantage of the computer’s slant toward word-based analysis, these techniques reimagine literary works as stacks of words. For computer-aided distant readers, literary expertise now amounts to interpreting the patterns in those stacks—for example, the frequency of indefinite articles (“a”) versus definite articles (“the”) in the titles of 19th century novels. According to its proponents, such analysis yields new insights. (For example: Counter-French Revolutionary novel titles use the definite article predominantly, indicating a commitment to the established past rather than an anticipation of the unknown future.)” (Erard, 2014)

Wie belastbar solche Einsichten aus wissenschaftlicher Sicht sind, muss an anderer Stelle diskutiert werden. (vgl. zum Beispiel Kaden, 2012) Dass diese Verfahren in einer Publikumszeitschrift wie The Atlantic behandelt werden, lässt vermuten, dass sie sich langsam etablieren, auch wenn sie nach wie vor eher eine Randerscheinung bleiben. Dies kann auch an der Skepsis gegenüber dieser quantitativen Annäherung an die traditionell aus der Nahperspektive beforschten Gegenstände der Literatur liegen. Eine der ersten Erwähnungen in einer Publikation mit nennenswerter Reichweite über die Literaturwissenschaft hinaus fand es vor sieben Jahren in der THE Chronicle Review. Lindsey Waters schrieb buchstäblich giftig:

„As if all that were not bad enough, we have distinguished professors of literature at elite universities promoting methodologies of study that positively discourage reading. Franco Moretti, of Stanford University, a scholar of the greatest cultivation, has published superb analyses of literary works. But Moretti is now promoting what he calls „distant reading,“ which seems to me to suggest that scholars of literature outsource reading of books to lower-level workers. Moretti has a cadre of workers charged with tracking numerically documented aspects of the history of the book, especially details like how many novels were published in Britain in the 18th century. What we need to understand is the system. The professor need not read books at all! (The subtitle of one lecture he gave in Germany says it all: „How to Talk About Literature Without Ever Reading a Single Book.“) It is impossible to understand the rationale for such a relegation of reading to graphs and charts except as a way of institutionalizing large-scale bureaucratic analyses of literature. That is poison.“ (Waters, 2007)

Wired berichtete 2009 in einer kurzen Glosse weitaus neutraler über Morettis Unterfangen einer umfassenden Fernlektüre der schätzungsweise 30.000 viktorianischen Romane. (McGray, 2009) Und seitdem wird dieses Beispiel immer wieder gern als Vorzeigekonzept der Digital Humanities in den Mainstream-Medien aufgegriffen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich Moretti entweder geschickt auf Eigenvermarktung versteht (und ja auch nach wie vor der Referenzpunkt zentraler Debatten um die Digital Humanities ist, vgl. Kirsch, 2014) oder eben, dass es über dieses Beispiel hinaus bisher keine weitere massentaugliche Anwendung gibt.

Darüber müssen wir an dieser Stelle keine Bewertung abgeben. In Michael Erards Text sticht vielmehr ein Aspekt hervor, der für die Frage nach zukünftigen Publikationsformen sowohl aus der Warte der Geisteswissenschaften als auch aus der Bibliotheks- und Informationswissenschaft (bzw. der Dokumentationswissenschaft, wenn es diese noch gäbe) bedeutsam ist:

„Rather than construing literature as an experience with language, this new literary scholarship has embraced the materiality of words: shuffling, sorting, and counting them to make sense of the patterns. At the same time, the experience of that materiality has been ceded to machines, which do the work of “discovering” their aggregate meaning in terms of the words they use. Now that the readings of a text are infinitely multiple, the human reader has been rendered so wholly irrelevant that the “humanities” part of “digital humanities” no longer seems to fit.” (Erard, 2014)

Wo die Materialität des Trägermediums verloren geht, nämlich im Digitalen, gewinnt das Zeichen eine neue Rolle, eine Art „eigenmateriellen“ Status, den man insofern auch topologisch begreifen kann, da es nur durch seine relationale Ausrichtung zu anderen Zeichen und also kontextualisiert überhaupt als Bedeutung greifbar wird. Dass gerade dieser besondere Status die Humanities nicht ausschaltet sondern als Digital Humanities im Sinne einer über diese digitale Bedingung reflektierende Geisteswissenschaft unbedingt erforderlich macht, übersieht Michael Erard.

Die Arten, auf den Maschinen diese Textkorpora und Wortsammlungen durchdringen können sind möglicherweise tatsächlich unendlich. Wie sie es tun und zu welchem Zweck bzw. Erkenntnisziel auch in der Literaturwissenschaft hängt aber maßgeblich von der Einschreibung (oder Inskription) ab, die der Mensch vornimmt, wenn er die Technik entwickelt und die Algorithmen formuliert. Es geht in die Irre, anzunehmen, Digital Humanities sind ein Maschinenprodukt und eine Vorstufe posthumaner Wissenschaft. Sie sind in der bisher etablierten Form eine oft sehr holprige Variante der Auseinandersetzung mit geisteswissenschaftlichen Gegenständen unter Zuhilfenahme digitaler Technologien. Nicht mehr und nicht weniger. Das kann die Geisteswissenschaften bereichern. Es kann sich aber auch in der Langzeitperspektive als irrelevant erweisen. Die Digital Humanities befinden sich derzeit in einer nach wie vor sehr frühen Entwicklungsphase, haben also den Status eines Experiments mit offenem Ausgang. In Kenntnis wissenschaftshistorischer Entwicklungslinien spricht so gut wie nichts dagegen, dieses Experiment erst einmal laufen zu lassen. Die Zeit wird zeigen, ob es zu Erkenntnissprüngen führt oder eine kleine Episode der Wissenschaftsgeschichte aus dem frühen 21. Jahrhundert bleibt.

Nicht nur aus dieser Sicht einer quasi begleitenden Wissenschaftsgeschichtsschreibung scheint es zugleich sinnvoll, Digital Humanities in einer zweiten Form forciert zu elaborieren – als (auch szientografische) Wissenschaft des Humanen unter den Bedingungen digital gestalteter Lebens- bzw., im Fall der Geisteswissenschaften, Forschungswelten. Im Gegensatz zu Morettis Distant Reading viktorianischer Romane ist deren Wirksamkeit nämlich bereits heute äußerst evident.

Michael Erard (2014). The New Work of Words. In: The Atlantic, Nov 20, 2014. http://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/11/the-new-work-of-words/382277/?single_page=true

Ben Kaden (2012). Anmerkungen zu John Heuser, Long Le-Khac (2011): Learning to Read Data: Bringing out the Humanistic in the Digital Humanities. In: DHD-Blog. 17.11.2014. http://dhd-blog.org/?p=1061

Adam Kirsch (2014). Technology is taking over English Departments: The False Promise of Digital Humanities. In: The New Republic. Online: 02.05.2014. http://www.newrepublic.com/article/117428/limits-digital-humanities-adam-kirsch (Erschienen unter dem Titel The Pseudo-Revolution. What does the digital humanities have to do with the humanities? In: The New Republic. May 12, 2014, S. 45).

Douglas McGray (2009) Hyper Texts. In: Wired. Vol. 17 No. 12 (Dec 2009), S. 78.

Lindsey Waters (2007) Time for Reading. In: THE Chronicle Review, Vol. 53, Nr. 23, S.6, 09.02.2007.

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